KZ Gedenkstätte Neuengamme-Gottesdienst 12.7.2020
Prediger: Pastor Thomas Friedhoff
Einmal im Jahr feiern wir unsern
Gottesdienst in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Wir wollen damit an die
Menschen erinnern, die ihre sexuelle Orientierung, Religion, Abstammung oder
sonstige Zugehörigkeit zu einer Minderheit an solche Orte wie Neuengamme,
Auschwitz o.ä. gebracht hat. Coronabedingt war es 2020 nicht möglich, den
Gottesdienst in Neuengamme zu feiern, deshalb hat er in diesem Jahr am
Steindamm stattgefunden.
Matthäus 26, 36ff
Dann kam Jesus mit seinen Jüngern zu einem Grundstück, das Getsemani hieß. Er
sagte zu ihnen: »Setzt euch hier! Ich gehe dort hinüber, um zu beten.«
Petrus und die beiden Söhne von Zebedäus nahm er mit. Angst und tiefe
Traurigkeit befielen ihn, und er sagte zu ihnen: »Ich bin so bedrückt, ich bin
mit meiner Kraft am Ende. Bleibt hier und wacht mit mir!«
Dann ging er noch ein paar Schritte weiter, warf sich nieder, das Gesicht zur
Erde, und betete: »Mein Vater, wenn es möglich ist, erspare es mir, diesen
Kelch trinken zu müssen! Aber es soll geschehen, was du willst, nicht was ich
will.«
Dann kehrte er zu den Jüngern zurück und sah, dass sie eingeschlafen waren. Da
sagte er zu Petrus: »Konntet ihr nicht eine einzige Stunde mit mir wach bleiben?
Bleibt wach und betet, damit ihr in der kommenden Prüfung nicht versagt. Der
Geist in euch ist willig, aber eure menschliche Natur ist schwach.«
Noch einmal ging Jesus weg und betete: »Mein Vater, wenn es nicht anders sein
kann und ich diesen Kelch trinken muss, dann geschehe dein Wille!«
Als er zurückkam, schliefen sie wieder; die Augen waren ihnen zugefallen.
Zum dritten Mal ging Jesus ein Stück weit weg und betete noch einmal mit den
gleichen Worten.
Als er dann zu den Jüngern zurückkam, sagte er: »Schlaft ihr denn immer noch
und ruht euch aus?…
Ich gehe einfach mal davon aus, dass das
wirklich klappt, dass ich mit Beginn des nächsten Jahres in Ruhestand gehen
kann. Dann ist dies heute aller Wahrscheinlichkeit nach meine letzte (zumindest
offizielle) Neuengamme-Predigt (als Pastor der MCC-Hamburg). Das fühlt sich
schon ein bisschen komisch an. Vor allem aber hat es mich dazu gebracht, mal
ein bisschen zurückzuschauen auf das, was ich die letzten 32 Jahre in
Neuengamme gepredigt habe.
Ich könnte diese Rückschau jetzt zum Anlass nehmen und mich darüber beklagen,
was ich da und anderswo an kostbaren Perlen vor starrsinnige und unmotivierbare
Säue geworfen habe. Wenn ich mir das aber verkneife und stattdessen mich selbst
als Hörer meiner eigenen Predigten mit in den Blick nehme, dann wird mir ein
bisschen anders. Und ich frage mich: Habe ich mir eigentlich selbst nicht
zugehört? Habe ich mir nicht geglaubt? Habe ich das selbst nicht ernst
genommen, was ich in Neuengamme gesagt habe? Irgend so etwas Ähnliches muss mir
da passiert sein.
Denn eine meiner Grundaussagen, die ich in
Neuengamme immer und immer wiederholt und betont habe, ist, wie sehr uns dieser
Ort dazu mahnt, uns nicht in Sicherheit zu wiegen, in dem Glauben, dass unsere
Gesellschaft sich einfach und automatisch immer weiter und von selbst
liberalisiert. Eines der wirklich furchtbaren Dinge an Neuengamme ist doch,
dass das kein mittelalterliches Gruselkabinett ist. Irgendein Ort, der den
Endpunkt einer uralten, längst überwundenen, schrecklichen
Diskriminierungsgeschichte markiert. Jahrhundertelang wurde es immer schlimmer,
wie die Mehrheit mit Minderheiten umging, bis das alles schließlich seinen
Höhepunkt in Neuengamme fand und an ähnlichen Orten. Aber zum Glück liegt das
alles lange hinter uns, und nun ist die Gesellschaft auf einem völlig anderen
Weg.
Alles Quatsch: Ganz viel von den liberalen
Errungenschaften, über die wir uns heute freuen, gab es bereits vor Neuengamme.
Eine tolle, lebendige, offene Schwulen- und Lesbenszene in deutschen Großstädten.
Jede Menge Treffs, Bars, Kneipen, in denen queeres Leben tobte. Oder etwas
ernsthafter Magnus Hirschfeld und sein Institut für Sexualwissenschaft. Die
machten Beratung für Homosexuelle und Aufklärung über Homosexualität. Die
hatten diesen berühmten Film „Anders als die anderen“ produziert und in die
Kinos gebracht. Oder das wissenschaftlich-humanitäre Komitee in Berlin und wie
die kurz davor waren, die Abschaffung des §175 durch den Reichstag zu bringen.
Oder wie es Juden vor allem aus Osteuropa nach Deutschland zog, weil sich in
diesem liberalen, offenen Deutschland so gut leben ließ. Eine bis heute ganz
wichtige theologische Strömung, das liberale Judentum, war in Deutschland
entwickelt worden. Und in den jüdischen Gemeinden wurde intensiv diskutiert, ob
man es mit der Assimilation in die Gesellschaft nicht ein bisschen zu weit
trieb mit der Integration.
So sah Deutschland kurz vor Neuengamme aus.
Da hatte sich die Gesellschaft immer weiter liberalisiert, so dass es
Minderheiten richtig gut ging in diesem Land. Und das war doch klar, dass das
so weitergehen würde. Denn wenn eine Gesellschaft sich erstmal so weit geöffnet
hat, dann muss das doch einfach immer weiter in diese Richtung gehen.
Und dann der Schock, wie das kippte. Wie
auf einmal all die Liberalität, die bis dahin so selbstverständlich war, wie es
mit der auf einmal vorbei war. Und in Deutschland geschahen Dinge, die man sich
überhaupt nicht hatte vorstellen können. Die Mehrheit wollte Sündenböcke und
fand sie bei den Minderheiten - Juden, Schwulen, Lesben, Roma, Sinti usw. usw.
Die waren schuld am miesen Zustand der Welt, befand die Mehrheit, und für die
waren Orte wie Neuengamme genau richtig.
Ich habe das immer wieder bei unseren
Neuengamme-Gottesdiensten gepredigt: Wenn das damals geschehen konnte, dann
kann es immer wieder passieren. Wenn uns die Geschichte, für die Neuengamme
steht, eins lehrt, dann das, dass wir als Minderheit in der Hand der Mehrheit
sind. Dass es klasse ist, wenn wir Zeiten der Liberalität genießen können. Aber
dass diese Liberalität nicht selbstverständlich ist und dass das
gesellschaftliche Klima sich nicht automatisch immer weiter zu unseren Gunsten
entwickeln muss. Das mussten Lesben, Schwule, Juden und andere Minderheiten
damals erleben. Dass dieser Kelch zu unseren Zeiten bislang an uns
vorbeigegangen, ist Geschenk, ist Glück, ist Gnade oder wie immer wir es nennen
wollen, aber nichts was selbstverständlich ist. Nichts, was wir als gegeben
hinnehmen dürfen. Sollte die Mehrheit heute oder in Zukunft wieder Sündenböcke
brauchen, werden wir wieder genauso fällig sein, wie die Generationen vor uns
es damals waren.
Und was diesen Gedanken jenseits allen
Gedenkens so gruselig macht, ist, dass wir ganz aktuell sehen können, wie sich
so etwas anbahnt: Dass das Beschuldigen von Sündenböcke
wieder losgeht. Dass in Deutschland Antisemitismus wieder Auftrieb hat. Dass
Juden davor gewarnt werden, in der Öffentlichkeit Kippa zu tragen. Dass
Synagogen überfallen werden. Dass Landkreise in Polen sich damit brüsten,
LGBTQ-freie Zone zu sein. Allein diese Sprache. Wie der
Präsidentschafts-Wahlkampf in Polen von den regierenden Rechten als Kampf gegen
eine angebliche LGBT-Ideologie geführt wird. Dass Juden schuld sein sollen an
Corona - all solch ein Irrsinn ist heute wieder möglich. Hätte man sich so
etwas vor ein paar Jahren vorstellen können? Nein, hätte man nicht.
Gepredigt habe ich es in Neuengamme immer
wieder, dass es keine automatische, immer weiter fortschreitende
Liberalisierung der Gesellschaft gibt. Wenn es damals passieren konnte, dann
kann es immer wieder passieren. Dass wir einfach Glück gehabt haben, dass wir
bislang so gut davongekommen sind. Aber dass wir uns darauf nicht ausruhen
dürfen, sondern dass wir dafür eintreten müssen, dass wir uns dafür engagieren
müssen, dass das gesellschaftliche Klima nicht wieder kippt. Dass wir unseren
Beitrag dazu leisten müssen, dass Neuengamme nie wieder möglich wird.
Das habe ich da ungefähr 32mal gepredigt. Doch augenscheinlich habe ich mir
nicht zugehört; denn getan habe ich nichts dergleichen. Ich glaube und predige
etwas Anderes, aber ich lebe trotzdem so, als ob es Standard wäre, dass die
Mehrheit uns Minderheit ein gutes und geschütztes Leben gewährt. Ich glaube
nicht, dass die Liberalität unserer Gesellschaft selbstverständlich ist, aber
ich lebe so, als ob sie es wäre. Und wenn ich mich so umgucke, glaube ich, bin
ich damit in ziemlich guter Gesellschaft. Also: Perlen vor die Säue geworfen.
Oder warum leben wir nicht anders?
Was mich betrifft, muss ich bekennen, dass
ich gar nicht so richtig weiß, wie ich anders leben sollte. Müsste ich
vielleicht auf jeder Demo mit dabei sein? Sollte ich viel schriller, deutlich
erkennbarer und anstößiger herumlaufen, um den Menschen um mich herum klarer zu
machen, dass wir Schwule und Lesben existieren? Oder wie sähe so ein
„Nie-wieder-Aktivismus“ eigentlich aus? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht so
recht. Und hinzukommt, selbst wenn ich es wüsste, stelle ich es mir einfach
furchtbar anstrengend vor, permanent in so einem Aktivismus-Modus zu leben. Und
ich glaube, das ist nicht nur fortschreitendes Alter, dass wir uns gern
einkuscheln in das Gefühl der Sicherheit und des Geborgenseins in einer
freundlichen Gesellschaft. Das fühlt sich einfach gut an, das zu erleben. Und
warum sollten wir uns das nicht gönnen, wenn es doch möglich ist? Vielleicht
ist das einfach so, dass die meisten durchschnittlich begabten und
durchschnittlich lebenden Menschen das gar nicht hinkriegen, in so einem
dauerhaften Alarmzustand zu leben. Aber wie sollen wir dann leben, als
Minderheit, deren Rechte die Mehrheit jederzeit wieder kassieren kann?
Als ich auf der Frage herumzukauen begann,
kamen mir diese Bibeltexte in den Sinn, die uns zum „Wachen“ auffordern. Das
kommt im NT ziemlich häufig vor, besonders gern im Zusammenhang mit den
Beschreibungen der Endzeit. Also diesen Szenarien, welche Schreckenszeiten
unserer Welt bevorstehen, bevor Christus als Richter der Welt zurückkommt. Das
ist alles sehr gruselig und sehr heftig, was da ausgemalt wird. Und wir werden
aufgefordert, in diesen Zeiten zu wachen. Oder in dem Text, den wir gerade
gehört haben, da ist es auch so: Da steht Jesus seine persönliche
Schreckenszeit bevor, und er bittet seine Jünger mit ihm zu wachen.
Nun könnte man sagen, ob wir in den Schreckenszeiten unserer Welt wachen oder
nicht, das wird die Schrecken nicht aufhalten. Oder ob die Jünger mit Jesus
gewacht hätten oder nicht, das hätte den Prozess nicht gestoppt, der ihn ans
Kreuz gebracht hat. Ob wir also wachen oder nicht, das macht den Kohl auch nicht
fett. Und trotzdem fordert uns das NT immer und immer wieder zu dieser Haltung
des Wachens auf. Im 1. Petrus 5,8-10 z.B. wird das so auf den Punkt gebracht:
Seid wachsam und nüchtern! Euer Feind, der
Teufel, schleicht um die Herde wie ein hungriger Löwe. Er wartet nur darauf,
dass er jemand von euch verschlingen kann.
Leistet ihm Widerstand und haltet unbeirrt am Glauben fest. Denkt daran, dass
die Gemeinschaft eurer Brüder und Schwestern in der ganzen Welt die gleichen
Leiden durchzustehen hat.
Ihr müsst jetzt für eine kurze Zeit leiden. Aber Gott hat euch in seiner großen
Gnade dazu berufen, in Gemeinschaft mit Jesus Christus für immer in seiner
Herrlichkeit zu leben. Er wird euch Kraft geben, sodass euer Glaube stark und
fest bleibt und ihr nicht zu Fall kommt.
So etwas ist eigentlich eher nicht unser Ding, sowas mit Teufel und Leiden und
Widerstand und so. Aber wenn wir das Ganze mal auf uns und unsere Situation als
Minderheit beziehen, dann wird das spannend. Dann hat das was, dieser Gedanke
zu wachen. Aufmerksam zu bleiben, wach zu bleiben, uns nicht einschläfern zu
lassen, damit dass unserer Umwelt es gerade gut mit uns meint. Sondern wach zu
bleiben dafür, dass das nicht selbstverständlich ist. Klar zu behalten, dass
wir Minderheit sind und dass die Mehrheit es jederzeit wieder gut und richtig
finden kann, dass wir an sonstwas schuld sind und dass so etwas wie Neuengamme
neu in Betrieb zu nehmen ist. Dass wir das im Blick behalten, wird es
wahrscheinlich nicht stoppen können. Genauso wenig, wie das Wachen der
ChristInnenheit die Schrecken der Endzeit stoppen kann oder genauso wenig, wie
das Wachen der Jünger Jesus vor dem Kreuz hätte bewahren können.
Doch es hätte Jesus gutgetan, wenn seine
Freunde wach geblieben wären und ihn auf seinem Weg in seine schlimme Zeit
begleitet hätten. Und denen, die es damals in Neuengamme erwischt hat, denen
hätte es gutgetan, wenn sie ihren Minderheitenstolz wachgehalten hätten. Wenn
sie durch das, was ihnen da angetan wurde, in dem Bewusstsein durchgegangen
wären, dass es Unrecht war, was ihnen geschah. Wenn sie zumindest nicht selbst
geglaubt hätten, dass sie Neuengamme verdient hätten. Wenn sie erhobenen
Hauptes und nicht gebeugt durchlitten hätten, was ihnen angetan wurde.
Wie gesagt, es hätte Neuengamme nicht verhindert.
Wenn es hart auf hart kommt, schützt auch ein wacher Minderheitenstolz nicht
vor dem Zugriff der Mehrheit. Aber er lässt uns dem Zugriff der Mehrheit anders
begegnen, stolzer, ungebeugter, die Ungerechtigkeit nicht einfach hinnehmend,
sondern Unrecht als Unrecht verstehend und soweit möglich benennend. Ich
glaube, so eine Haltung legt uns das NT nahe, wenn es uns zum Wachen
auffordert. Wach zu bleiben für das, was richtig ist. Wach zu bleiben dafür,
dass keine Minderheit - welche auch immer - Schuld ist für Fehlentwicklungen in
Staat und Gesellschaft. Unseren Stolz als Minderheit zu pflegen, wach zu
bleiben und nie aufzuhören, den aufrechten Gang zu pflegen.
Wenn MCC uns dabei helfen würde, so etwas
hinzukriegen, dann würde sie eine super wichtige Funktion erfüllen. Dann wäre
Neuengamme und alles andere, was wir tun, was wir mal besser und mal schlechter
hinkriegen, doch was deutlich Anderes als Perlen vor die Säue zu werfen. Wenn
unser Gemeindeleben dazu beiträgt, dass wir uns gegenseitig ermutigen und
bestärken, wach zu bleiben, dann ist das was Gutes und Wichtiges. Und dann
verliert das auch nach 32 Jahren nicht an Bedeutung. Auch nicht in einer Zeit,
wo es uns als Minderheit gut geht. Denn das ist es, was wir – trotzdem -
hinkriegen müssen als Minderheit: Wach zu bleiben. Wachet und betet!
Amen
© Thomas Friedhoff