Gottesdienst in der KZ-Gedenkstätte
Neuengamme 5.6.2016
Prediger: Thomas Friedhoff
Einmal im Jahr feiern wir unsern Gottesdienst in der
KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Wir wollen damit an die Menschen erinnern, die ihre
sexuelle Orientierung, Religion, Abstammung oder sonstige Zugehörigkeit zu
einer Minderheit an solche Orte wie Neuengamme, Auschwitz o.ä. gebracht hat.
Galater 3,26-28
Ihr alle seid jetzt mündige Söhne und Töchter Gottes – durch den Glauben und
weil ihr in engster Gemeinschaft mit Jesus Christus verbunden
seid. Denn als ihr in der Taufe Christus übereignet wurdet, habt ihr
Christus angezogen wie ein Gewand. Es hat darum auch nichts mehr zu sagen, ob
ein Mensch Jude ist oder Nichtjude, ob im Sklavenstand oder frei, ob Mann oder
Frau. Durch eure Verbindung mit Jesus Christus seid ihr alle zu einem Menschen
geworden.
Aus Apostelgeschichte 8
Der Engel des Herrn aber sagte zu Philippus: »Mach dich auf den Weg und geh
nach Süden, zu der Straße, die von Jerusalem nach Gaza hinabführt!« Diese
Straße wird kaum von jemand benutzt. Philippus machte sich auf den Weg und ging
dorthin. Da kam in seinem Reisewagen ein Äthiopier gefahren. Es war ein hoch
gestellter Mann, der Finanzverwalter der äthiopischen Königin, die den Titel Kandake führt, ein Eunuch. Er war in Jerusalem gewesen, um
den Gott Israels anzubeten. Jetzt befand er sich auf der Rückreise. Er saß in
seinem Wagen und las im Buch des Propheten Jesaja. Der Geist Gottes sagte zu
Philippus: »Lauf hin und folge diesem Wagen!« Philippus lief hin und hörte, wie
der Mann laut aus dem Buch des Propheten Jesaja las. Er fragte ihn: »Verstehst
du denn, was du da liest?« Der Äthiopier sagte: »Wie kann ich es verstehen,
wenn mir niemand hilft!« Und er forderte Philippus auf, zu ihm in den Wagen zu steigen…
Da ergriff Philippus die Gelegenheit und verkündete ihm, von dem Prophetenwort
ausgehend, die Gute Nachricht von Jesus. Unterwegs
kamen sie an einer Wasserstelle vorbei, und der Äthiopier sagte: »Hier gibt es
Wasser! Spricht etwas dagegen, dass ich getauft werde?« Er ließ den Wagen
anhalten. Die beiden stiegen ins Wasser hinab, Philippus und der Äthiopier, und
Philippus taufte ihn. Als sie aus dem Wasser herausstiegen, wurde Philippus vom
Geist des Herrn gepackt und weggeführt, und der Äthiopier sah ihn nicht mehr.
Von Freude erfüllt setzte er seine Reise fort.
Ich möchte Euch eine kleine Geschichte erzählen. Die ist zwar was
Besonderes, sonst würde ich sie hier nicht erzählen und sonst wäre sie Ende
April nicht durch die Presse gegangen. Aber wenn die Hauptperson dieser
Geschichte nicht ein wichtiger ehemaliger Senator der Vereinigten Staaten wäre,
hätten wir wohl kaum etwas davon mitbekommen. Uns sagt der Name wahrscheinlich
nichts, in den USA ist er sehr bekannt, der Senator Harris Wofford.
Wofford hat lange Jahre den Bundesstaat Pennsylvania
im Senat vertreten. Er gehört der Demokratischen Partei an, und er hat sich vor
allem dadurch einen Namen gemacht, dass er die Bürgerrechte in den USA
vorangebracht hat. Er hat Martin Luther King beraten und Kennedy und Clinton.
Und er war eine Weile im Gespräch als möglicher Vize-Präsident neben Clinton.
Also jemand, dessen Namen und Gesicht man kennt in den USA.
Bei der aktuellen Headline, die sich mit Harris Wofford beschäftigt, geht es darum
dass er am 30.4. im Alter von 90 Jahren noch einmal geheiratet hat. Er war 48
Jahre mit seiner Frau Clare verheiratet gewesen, und sie haben drei Kinder
zusammen. Als Clare stirbt, ist Harris 70, und er ist absolut untröstlich. Er
ist sich sicher, dass er eine Liebe, wie die, die ihn mit seiner Frau verband,
nie wieder finden wird. Doch das ist falsch; denn – haben wir gerade gehört -
20 Jahre später heiratet er wieder. Soweit so nett, aber das Ganze ist ja noch
keine Nachricht, die die Weltpresse beschäftigen müsste. Stimmt. Was die Presse
so spannend findet, ist nicht nur das hohe Alter und die Berühmtheit des
Bräutigams, sondern vor allem, dass er einen Mann heiratet.
Wofford erzählt, wie er seinen Partner, Matthew
Charlton, vor 15 Jahren am Strand von Fort Lauderdale traf. Die beiden mochten
sich und freundeten sich an. Dann begannen sie gemeinsam zu reisen. Und
irgendwann war klar: Die beiden lieben sich. Dann hat er nochmal 3 Jahre
gebraucht, bis er seinen Kindern von seiner neuen Liebe erzählen konnte. Und
nun ist es 5 Wochen her, dass der ehemalige US-Senator Harris Wofford und Matthew Charlton sich in aller Öffentlichkeit…
Zitat Wofford: an den Händen gehalten und einander
gelobt haben, „für immer verbunden zu sein [...], bis dass der Tod uns
scheidet."
Wir müssen all das immer noch nicht für soooo
furchtbar aufregend halten. Was ich aber an dieser Story sehr spannend finde,
neben allem anderen – also, dass sich hier ein alter, ehrwürdiger US-Senator
offen zu seiner spät entdeckten Homosexualität bekennt und dass er diese
nagelneue und in den USA ja immer noch sehr umstrittene Möglichkeit der
gleichgeschlechtlichen Eheschließung in Anspruch nimmt. So ganz Ohne ist das
alles ja doch nicht. Aber was ich darüber hinaus für wirklich spannend halte,
ist was anderes:
Sowas geschieht ja, dass man sich lange auf einer Schiene bewegt, in einer
Schublade steckt. Harris Wofford in der Schublade
Heterosexualität. Darin sitzt er 48 Jahre, auf dieser Schiene bekommt seine
Frau drei Kinder von ihm. Der Standard wäre nun aber, dass er jetzt sagt, das
habe er ja alles nur wegen der Öffentlichkeit getan. Eigentlich hat er immer
darunter gelitten, dass er seine wahren Neigungen verstecken musste. Aber nun
hat er endlich das falsche Leben hinter sich gelassen und hat im hohen Alter -
aber besser spät als nie – das einzig wahre, richtige, Leben als schwuler Mann
gefunden.
Doch genau das tut er nicht. Ich weiß gar nicht, ob Wofford überhaupt von Homo- oder Heterosexualität spricht,
wenn er von sich erzählt. Was er stattdessen sagt, ist: "Ich war ein
halbes Jahrhundert mit einer wunderbaren Frau verheiratet, und jetzt bin ich
froh, ein zweites Mal das Glück gefunden zu haben."
Das, was er bisher gelebt hat, wird durch das Neue, was er jetzt erlebt, nicht
entwertet. Er hat sich nicht mit großem Trara von einer Schiene auf die andere
bekehrt. Er hat nicht die eine Schublade verlassen, lebt nun in einer neuen und
sagt, die alte war Mist. Nein, er kann sagen: „ich bin froh noch einmal das
Glück gefunden zu haben“. Aber was davor war, das war auch Glück. Das eine
Glück entwertet nicht das andere. Seine erste Ehe war keine Katastrophe, weil
sie mit einer Frau stattgefunden hat, sondern: „Ich war ein halbes Jahrhundert
mit einer wunderbaren Frau verheiratet“. Und dass er jetzt mit einem Mann
zusammen ist, ändert nichts an der Wunderbarkeit dessen, was vorher war. Und
umgekehrt, dass er 50 Jahre heterosexuell verheiratet und glücklich war,
mindert nicht den Wert seiner gleichgeschlechtlichen Partnerschaft.
Warum ich davon hier in Neuengamme erzähle? Weil wir in einer Welt
leben, die vollgestellt ist mit Schubladen. Und weil diese Schubladen wieder
wichtiger und wichtiger werden. Und weil das eine Katastrophe ist. Es ist genau
die Katastrophe, die schließlich hierher nach Neuengamme geführt hat. Und dass die
sich wieder entwickelt, das darf einfach nicht sein.
Dass es diese Schubladen immer gab, ist klar: Also die Schubladen der Homo-
oder Heterosexualität, Deutscher, Türke, Migrationshintergrund, schwarz, weiß,
Flüchtling… Und hier für Neuengamme hat mal die Schublade Jude eine sehr
wichtige Rolle gespielt. Das war immer so, dass man je nachdem, in welche
Schublade man sortiert wurde, ein entsprechendes Etikett aufgepeppt bekam. Und
dann wurde man entsprechend bewertet und/oder es wurden einem bestimmte Verhaltensmuster
zugeschrieben. Und dann gab es diese absolut düsterten Zeiten von Neuengamme.
Da reichte die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schublade aus, um hier zu
enden - völlig unabhängig davon, wie man sich sonst verhielt.
Aber ich lebe, seit ich denken kann, mit dem Glauben, dass diese
Schubladen immer unwichtiger werden. Dass sie existieren ja, aber dass es eine
gesellschaftliche Entwicklung gibt - die gibt es einfach, das ist eine Art
Naturgesetz - dass die Schublade, zu der ein Mensch gehört, dass die immer
weniger Bedeutung hat. Dass stattdessen der Wert des einzelnen Menschen -
jenseits der Etikettierung, die man ihm aufpeppt - immer mehr in den
Vordergrund tritt. So entwickelt sich die Gesellschaft einfach, und wir müssen
im Grunde nur drauf warten, dass das immer gut weiterläuft.
Wie falsch das ist, wie naiv, zeigt z.B. der Spruch dieses Herrn
Gauland letzte Woche: Der macht sich nicht mal mehr die Mühe, das zu
kaschieren. Man kann ja begründen, warum Menschen, die in eine bestimmte
Schublade einsortiert sind, warum „die Leute“, die nicht in ihrer Nachbarschaft
haben wollen. Also, der Schwarze an sich der ist halt laut, der grillt so viel,
dessen viele Kinder senken das Bildungsniveau in der Schule für meine hübschen
weißen Kinder. Mit sowas kann man die Ungeheuerlichkeit, die man sagen will,
ein bisschen aufhübschen. Aber das hat dieser Gauland gar nicht mehr nötig. Der
kann heute wieder sagen: Dass der Boateng eine etwas dunklere Hautfarbe hat,
das reicht, damit ich ihn nicht als Nachbarn will. Da kann heute ein Politiker
wieder den plattesten Rassismus bedienen - Schublade zu und fertig. Bislang
haben wir sowas in Filmen über die Nazizeit gesehen. Dann haben wir uns
gegruselt, wie das damals möglich war. Und dann waren wir froh, dass wir in modernen
Zeiten leben, wo sich sowas mehr und mehr auswächst. Falsch, da ist es wieder.
Und in Deutschland gibt es wieder eine Partei, die damit statte Prozente
einfährt.
Viele von uns, die wir in die schwule oder lesbische Schublade
gehören, wir befürchten natürlich und völlig zurecht, dass wir zu den ersten
gehören, die es wieder erwischen wird, wenn diese Gaulands und Co. noch
salonfähiger werden. Da treibt uns schon ein existentielles Eigeninteresse, uns
dagegen zu stemmen, dass das weiter geht. Aber als ChristInnen bewegt uns noch
was anderes:
Wir haben es gerade gehört, diesen Grundsatz, in Christus kann es keine
Schubladensortierung mehr geben. Mann, Frau, Jude, Heide, all das gilt nicht
mehr, sondern in Christus sind alle Menschen gleich geliebt, gleich geschätzt,
gleich wert. In der Liebe Gottes sind alle Schubladen überwunden. Das nehmen
wir für uns in Anspruch, und wir erwarten von der Gesellschaft, dass sie uns
das gewährt. Doch Mooo - ment:
Das kann auch ganz anders funktionieren. Wie, zeigt uns der zweite Text. Der
Philippus gehört auch zu einer unterdrückten, verfolgten Minderheit, zu den
Christen. Und als solcher kann er das - wie wir - in Anspruch nehmen, dass die
Mehrheit (um der Liebe Gottes willen) nett zu ihm sein soll. Doch der Geist
Gottes und Philippus machen was anderes:
Da taucht dieser Typ auf, der in sämtlichen Schubladen, die für die Umwelt des
Philippus was bedeuten, aussortiert ist: Der ist Ausländer. Durch seine
schwarze Hautfarbe deutlich als solcher gekennzeichnet. Damit für Herrn Gauland
und „die Leute“ nicht nachbarschaftstauglich. Und er ist - trotz all seiner
religiösen Sehnsucht - Heide. Also hat er auch religiös schön draußen zu
bleiben. Und zu allem Elend ist er Eunuch, und damit ist er in Judäa absolut
außen vor. Das ist definitiv niemand, mit dem man was zu tun haben will. Doch
just zu dem führt Gottes Geist den Philippus.
Und ganz egal in welche Schublade er gehört und warum man mit dem
nichts zu tun haben will, der wird getauft. Und damit wird er zu einem
vollwertigen und gleichberechtigten Mitglied der christlichen Gemeinde; denn da
zählen keine Schubladen, sondern da zählt nur die Liebe Gottes, die uns alle
verbindet, über alle Grenzen, Schubladen und Schienen hinweg.
Das ist es: Wir sind schwul, lesbisch, heterosexuell, Aus-,
Inländer oder in welche Schublade wir auch immer gehören mögen. Vielleicht
lehnen wir die Schublade ab, in die wir sortiert sind, oder wir fühlen uns wohl
in ihr. Doch wenn wir mit Gott, mit Christus zu tun haben, dann haben diese
Schubladen keine Bedeutung mehr. Uns steht die Vision einer Welt ohne
Schubladen vor Augen. Uns leitet diese Idee von „alle eins in Christus“. Und
das ist etwas, was wir nicht bloß für uns in Anspruch nehmen. Etwas, was wir
für uns haben wollen. Sondern wir sind gerufen, daran mitzuwirken, dass das
Wirklichkeit für alle wird. Wir selbst sollen dazu beitragen, dass dies
Schubladendenken überwunden wird. Und sicher sind wir klein und können nicht
viel wuppen. Aber in klein geht es los. Dass der Philippus diesen einen äthiopischen
Eunuchen getauft hat, war ja auch kein Massenspektakel, sondern das war eine
winzig kleine Aktion. Aber superwichtig war die. Ein Signal, um das deutlich zu
machen, dass bei Gott keine Grenzen und Schubladen mehr gelten. Klein macht
nix. Aber automatisch geht gar nichts. Deshalb sorgen wir, so klein wie wir es
denn können, dafür dass Schubladen überwunden werden, dass die Wege nach
Neuengamme versperrt werden.
Die Gaulands und Trumps wollen was anderes. Was man von rechten
Parteien in Europa hört, macht uns schaudern. Aber wir machen weiter, wir in
klein, Senator Wofford mit mehr Presseaufmerksamkeit…
Doch wir fordern es nicht nur für uns, und wir warten da auch nicht nur drauf.
Sondern so wie wir es denn können, machen wir weiter damit, dass das vorankommt,
was wir von Jesus mitgekriegt haben – die Idee Gottes von einer Welt ohne
Schubladen. Die Idee einer Welt ohne Neuengamme.
Amen
© Thomas Friedhoff