Predigt MCC Hamburg zum 8. Mai 2022 von Anne Klemm

Muttertag und Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus

Galater 5, V. 1-15

Freiheit braucht Liebe – Liebe braucht Freiheit

Der Apostel Paulus schreibt seinen Brief an die Gemeinden Galatiens, einer Provinz auf dem Gebiet der heutigen Türkei. Zuvor hatte er die dort lebenden Heiden zu einem Leben in Jesus Christus bekehrt. Anlass des Briefes ist das Eindringen judaisierender Missionare in die galatischen Gemeinden, die die Beschneidung der männlichen Heidenchristen als Erfüllung des jüdischen Gesetzes fordern. Wahrscheinlich haben sie darüber hinaus die Einhaltung der Thora verlangt. Sie hatten damit in Galatien schnell Erfolg. Der Brief ist nun ein leidenschaftlicher Appell des Paulus zur Wahrung der christlichen Freiheit, die sich nicht in der Befolgung von gesetzlichen vorgeschriebenen Riten erfüllt.

In Christus kommt es nicht darauf an, beschnitten oder unbeschnitten zu sein, sondern darauf, den Glauben zu haben, „der in der Liebe wirksam ist.“ Die Gegner stiften Unruhe und sollen sich doch gleich selbst verschneiden lassen.

Paulus wendet sich hier scharf gegen die Gegner, die ein „anderes Evangelium“ verkünden. Die Annahme dieses „Evangeliums“ bedeutet die Abkehr von Gott. Es ist eine Verfälschung des Evangeliums Christi, also im paulinischen Sinne erst gar kein Evangelium.

Hier steht also der Glaube gegen das Gesetz. Kommt uns das nicht bekannt vor? Die Gefahr, immer wieder vom Glauben, der vom Grundsatz „Liebe Deinen Nächsten, wie Dich selbst.“ abzukommen und anstatt dessen in abwegige Verhaltensweisen abzudriften? Sich lieber dem Gesetz, damit meine ich nicht, dem demokratischen Grundgesetz, sondern in unserem Falle anderen Heilsbringern und falschen Propheten zu unterwerfen, die uns im Prinzip nur das eigenständige Handeln im Glauben absprechen und unser Selbstvertrauen in Christus zu sein, schmälern.

Woran mag das liegen? Welche Einfallstür nutzen jene Verunsicherer unseres eingeschlagenen Pfades?

Paulus weiß, genauso wie wir, dass wir Menschen nach deutlich sichtbaren Zeichen und klar erkennbaren Regeln suchen.

Liegt es daran, dass wir uns solchen nur zu gern für unser Sicherheitsgefühl unterwerfen? Dass wir nun wie vorher Gefangene nicht wissen, wie wir mit der plötzlich gewonnen Freiheit umgehen sollen? Weil wir dazu neigen, lieber freiwillig wieder in die alte Gefangenschaft zurückzukehren, anstatt fest in Jesus Christus Nachfolge, also damit in uns selbst, zu stehen?

Freiheit kann Einem große Angst machen. Auf einmal gibt es so viel Platz für Neues und plötzlich tut sich ein zuvor nicht entdeckter Gestaltungsraum auf. Die Ketten unserer festgefahrenen Muster zerbrechen und es können neue Wege gegangen werden. Das kann Einen einschüchtern, vor allem diejenigen, die vorher das Sagen hatten.

Wie oft kehren wir in unserem Leben in das Gefängnis der alten, vertrauten und bewährten Denk- und Verhaltensmuster zurück, anstatt Neues zu wagen? Wie oft haben wir Fehler eingestanden, nur um die gleichen wieder zu machen und wieder so zu handeln, wie wir eigentlich nicht wollen?

Ja, es ist doch so viel einfacher, mitzumachen und sich Regeln und Mustern zu unterwerfen, die die Sieger von den Verlierern trennen. Was aber, wenn der Preis zu hoch ist? Wenn wir uns selbst oder wichtige Teile von uns verleugnen müssen, um zu denen zu gehören, die das Gesetz erfüllen? Wenn diejenigen, die uns nah sind, ausgegrenzt werden? Dann braucht es Mut. Dann müssen wir Ängste überwinden. Dann sind wir genau da, wo Paulus den Finger in die Wunde legt.

Diese Gemeinde wurde aus genau diesem Geist geboren. Sie ist entstanden, als es in der Gesellschaft und auch in den Kirchen nicht miteinander vereinbar war, schwul oder lesbisch und zugleich Christ/ Christin zu sein. Bibeltreu und gottgefällig leben – so die Gesetzmäßigkeit und das Verständnis jener Zeit – kann niemand, der homosexuell liebt und lebt.

Es brauchte Mut und die Überwindung vieler Ängste, um diesen Bruch zu heilen. Die Menschen in dieser Gemeinde haben sich gegenseitig Mut gemacht. Haben die Erkenntnis und die Überzeugung miteinander geteilt, von Gott geliebt zu sein, genauso wie sie sind. Sie und wir heute können stolz auf diese Geschichte sein. Stolz darauf, dass wir uns gegenseitig Halt und Stütze dabei waren und sind, zu uns selbst zu stehen. Und auf den Geist Gottes, der uns die Kraft gegeben hat, diesen Weg zu gehen. Das war keine Gemeinschaft aus Not. Es war eine Gemeinschaft der Mutigen.

Und wo sind wir heute?

Die Zeiten haben sich geändert – Gott sei Dank. Nicht überall, aber zumindest hier bei uns in den freien Ländern der Welt. Die Kirchen haben sich gewandelt, oder befinden sich in einem deutlichen Prozess des Wandels und lösen sich von der alten „Gesetzmäßigkeit“ des Widerspruchs zwischen Christsein und „anders Liebenden“.  So sind denn auch viele von denen, die in den Anfangsjahren bei uns waren, in ihre Heimatgemeinden zurückgekehrt.  Das ist ok und kann niemandem vorgeworfen werden. Jeder von uns ist frei zu entscheiden, wo er Gott begegnen will.

Wir sind noch hier. Hier im MCC. Wenn das nun aber nicht mehr der Raum ist, in den wir vor der Ausgrenzung flüchten, was verbindet uns? Was schweißt uns zusammen? Uuuups…plötzlich tut sich auch für uns das Tor zu Neuem auf. Wie gern möchten wir uns festhalten, an Bekanntem und Bewährtem, uns nicht verlieren in zu viel Veränderung. Schaut doch hin. In dieser Gemeinde sprüht noch immer der Geist Gottes. Er schlägt Funken und führt neue Menschen zu uns. Sie bringen neue Ideen, stellen Altes in Frage und manchmal … so scheint es uns… alles auf den Kopf.

Lasst uns dankbar dafür sein. Und lasst uns gemeinsam darüber nachdenken, was uns als Gemeinde ausmacht, was uns verbindet und wohin wir gehen wollen. So knüpfen wir auch an unsere Geschichte an, die alles andere als überholt ist, denn sie ist unser Fundament, das auch den neu zu uns stoßenden Menschen viel geben kann. Und wenn wir das Verbindende suchen, dann halten wir es auch aus, mal herausgefordert und auf die Probe gestellt zu werden. Wir werden uns wieder finden, weil wir wissen, was wir aneinander haben. Darauf sollen und können wir vertrauen. 

In dem Vertrauen, dass der Geist Gottes uns ermutigt und zur Freiheit befähigt, gedenken wir heute auch der Befreiung vom Nationalsozialismus am 8. Mai 1945. Ein Tag, an dem der Inbegriff einer uniformen und gleichschaltenden politischen Ideologie kapitulierte. Eine lebens- und menschenverachtende Gesinnung mit einem gewaltvoll errichteten gesetzlichen Gefängnis. Die Nazis predigten, dass Zusammengehörigkeit den Umgang mit Verschiedenartigkeit ausschliesst. Sie setzten genau an dem vorhin genannten menschlichen Pseudobedürfnis an: Sie versprachen eine eindeutige Zugehörigkeit, die für immer Bestand hätte. Sie gaben Regeln vor, mit denen die Menschen alles richtig machen konnten, mit denen sie sich Zufriedenheit und Glück erarbeiten konnten und deren Einhaltung klar definiert wurde. Dazu lieferten sie die sicherheitsspendende Vorgabe, wer dazu gehört und wer nicht. Das alles verspricht der befreiende Glaube an Christus eben nicht.

Jesus Christus sagte, dass Einheit erst in Verschiedenheit authentisch ist. Bei Christus geht es um Inhalte, die so schwer fassbar und gar nicht zu erarbeiten sind. Konkret ist das: geschenkte Zuwendung, Warten und Hoffen auf Gerechtigkeit. Die christliche Freiheit ist de facto eine Aufgabe.  Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht die eigenen, egoistischen Interessen verfolgt, sondern dass sie im Dienen und Lieben ihren Ausdruck findet.

Durch dieses Werk des Christus bin ich, bist Du, sind wir freigemacht. Nicht durch das Gesetz. Unsere, Deine und meine Freiheit liegt darin, die Freiheit zu besitzen, sich dem Gesetz, welches den Glauben einschränkt, nicht zu unterwerfen. Die neu erworbene Freiheit in Christus ist Freiheit, die gebunden ist an die Liebe zu Gott und den Menschen. Das bedeutet widerum, dass wir auch Menschen mit dieser Ideologie im Kopf nicht abweisen oder ignorieren können, wenn Gott sie uns vor die Nase setzt.

Deswegen ist für Gabi und mich der heutige Tag in doppelter Hinsicht bedeutsam. Wir leben gemeinsam mit Gabis Mutter in einer Wohnung. Sie wurde 1928 geboren. Ihre Kindheit und Jugend waren von der NS-Zeit geprägt, so dass es bis heute immer wieder zu für uns sehr schwierigen Aussagen kommt. Jeder Tag ist für uns eine Übung, sie nicht zu verurteilen oder wegzustoßen. Sondern unseren Glauben und unsere liebende Beziehung trotz vieler subtiler Anfeindungen – weil sie eben eine lesbische Liebesbeziehung ist - konsequent zu leben. Ihr trotzdem zu dienen und sie zu lieben. Als Mensch, der nun meist in Ängsten und großen körperlichen Schmerzen lebt. Ein nicht ganz einfaches Projekt, das vor allem ich schon oft scheitern sah. Eins ist uns dabei immer deutlich vor Augen: wie frei und stark wir sind. Jede Anfeindung bestärkt uns Gott sei Dank nur in unserem Glauben und schweißt uns umso stärker zusammen. Fest im Glauben zu stehen, schützt uns vor Allem, was uns schaden möchte und in der Liebe wirksam zu sein.

Der 8. Mai 1945 war ein Neuanfang. Manche haben sich auf ihn eingelassen, viele nicht. Es sind heute keine judaisierenden Missionare. Es sind andere Missionare, die uns immer wieder versuchen werden, vom Glauben abzubringen und uns unserer Freiheit zu berauben.

Nehmen wir uns also Paulus‘ Worte zu Herzen und überlegen uns, wo und wie die christliche Freiheit neben unserem Leben und der Gesellschaft in unserer Gemeinde ihren Ausdruck findet und wo sie zur Befreiung, Versöhnung und Vergebung führen kann. Und lassen wir uns nicht durch die Auseinandersetzungen, die zum Leben und zu Beziehungen gehören, zerreißen oder verschlingen. Sondern schauen darauf, was uns eint.

Amen.