Predigt am 18. September
2022 zu 2. Samuel 6, 12-16.20-22
Stolz und Schamgefühl
Was
für eine Freude! Die lang verschollene Bundeslade, das nationale und religiöse
Heiligtum, wird nach Jerusalem überführt. Mit Pauken und Trompeten und mit
großem Gefolge, das im-mer größer wird, je näher man der Stadt kommt. Dort ist
es dann ein regelrechter Volksauf-lauf. Den Lärm der Menge hört man schließlich
auch im Palast.
Prinzessin
Michal tritt neugierig ans Fenster. Was ist da los? Erwartet hat sie das
feierliche Getön einer religiösen Prozession, aber das hier klingt entschieden
anders. Viel zu ausge-lassen! Sie hört rhythmisches Händeklatschen, das Gejohle
der Männer und das Gejuchze der Frauen. Und dann sieht sie ihn: ihren Ehemann
David, den König. Mittenmang. Wie wild tanzend. Das Obergewand hat er längst
abgeworfen. Er trägt nur noch einen Priesterschurz. Und so ein Schurz ist kurz.
David macht Luftsprünge, wirft die Beine nach oben – und dabei sieht man ALLES.
David
amüsiert sich prächtig, but the princess is not amused, und sie mag bei seinem
Anblick so etwas gedacht haben wie: „Allmächtiger Gott…“ Prinzessin Michal ist
das peinlich, was ihrem Mann anscheinend absolut nicht peinlich ist.
Bevor
wir Michal vorschnell als „Spaßbremse“ abstempeln, lasst uns ein bisschen bei
ihr verweilen. Ja, sie ist eine Spaßbremse, aber warum?
Prinzessin
Michal kannte ihren Mann David von Jugend auf. Er lebte als Seelentröster ihres
Vaters Saul am Hof und wurde zum Freund ihres Bruders Jonathan. David war quasi
Familienmitglied und ihr sehr vertraut. Als Saul die beiden jungen Menschen
verheiratete, hat sie wohl mit Freuden „Ja“ gesagt. Als Frau ihres Standes
durfte sie nicht unbedingt damit rechnen, einen Mann zu heiraten, den sie liebt.
Aber Michal liebte David, so steht es ausdrücklich in der Bibel. Und David? Von
ihm steht da bezeichnenderweise nichts dergleichen.
Wie
wir vielleicht noch aus dem Kindergottesdienst wissen, wird David von Sauls Hof
verstoßen. Michal sieht David für eine sehr lange Zeit nicht. Während einer so
langen Zeit kann viel geschehen.
Als
sich beide schließlich wiedersehen, ist da keine Liebe mehr, wenn sie denn bei
David je vorhanden war. Michal und David stehen sich fremd gegenüber.
David,
der eine Unzahl von vorteilhaften Ehen eingegangen war, der sich Frauen und
wohl auch Männer nahm, wie es ihm gefiel, der ein höchst abenteuerliches Leben
geführt hatte, sah in Michal wahrscheinlich nicht mehr als eine fade,
langweilige Prinzessin.
Michal
spürte, dass sie nicht geliebt wurde, und das verletzte sie tief. Vor diesen
Verletzungen versuchte sie sich zu schützen und umgab sich mit Stolz. „Wenn
David schon nichts auf sich hält“, dachte sie, „halte zumindest ich meine Würde
hoch! David… man merkt, wie wenig König du bist. Man nimmt an dir den Stallgeruch
deiner niederen Herkunft wahr, du Viehtreiber, Tempelhure, Schutzgelderpresser,
War-Lord! Nie wirst du ein König wie mein Vater Saul. Du kannst mir nicht das
Wasser reichen. Ich bin die Tochter des ersten Königs von Israel, von edler
Herkunft, eine Palastgeborene, und habe die allerbeste Erziehung genossen. Uns
trennen Welten.“
Wenn
Michal solche Gedanken hegt, drückt sie ihr Kreuz durch, bekommt sie etwas
besonders Starres, als trüge sie ein Korsett. Doch dieses Korsett, das sie
aufrecht hält, springt bei den verschiedensten Gelegenheiten auf. Dann ist es
um ihre Selbstbeherrschung geschehen.
Ihr
ist schnell etwas peinlich, ihr, die sich zum Schutz in die Konventionen ihres
Standes eingesponnen hat. Wenn Menschliches, allzu Menschliches ihr vor Augen
tritt, geniert sie sich: „Das schickt sich nicht! Das tut man nicht! Das darf
ich nicht mögen!“ Ja, die Prinzessin hält auf sich, ihr Stolz schützt sie,
bringt sie aber um eine Menge Lebensfreude und lässt sie die Lebensfreude
anderer Menschen verurteilen.
Und
wie arm ist dieser Stolz!
„Wie
herrlich ist heute der König von Israel gewesen, als er sich vor den Mägden
seiner Männer entblößt hat, wie sich die losen Leute entblößen!“
Aus
diesen Worten spricht die tiefe Verletzung einer Frau, die nicht geliebt wird.
Aber nicht die Ursache wird angesprochen, nicht die eigentliche Frage gestellt,
die da wäre: „Wo ist unsere Liebe füreinander geblieben?“ Sondern es reicht
gerade für billige Ironie und das in einer Situation, über die manch anderer,
manch andere lachend hinweggegangen wäre.
Und
was erreicht Michal? Davids Liebe hat sie mit dieser Bemerkung nicht erweckt,
aber das will sie wohl auch gar nicht mehr. Stattdessen erweckt sie seine Wut
auf sie. David, eben noch hoch erhoben, getragen von der Menge, freudig erregt
vom Tanz, bekommt durch Michals Worte eine eiskalte Dusche. Vor Wut reagiert er
über alle Maßen fies. Er beleidigt Michal zweifach: als Prinzessen, indem er
sagt, dass er von Gott erwählt ist und nicht mehr ihr Vater, ihre Familie also
nicht mehr zählt; und als Frau, indem er sagt, dass es ihm gerade um die
Anerkennung der Frauen aus dem gemeinen Volk geht – also nicht um die
Anerkennung seiner eigenen Frau.
Und
wie reagiert Michal? Wir hören davon nichts. Sie wird es sich angehört haben.
Sie denkt bei sich: „Du Tempelhure“, presst die Lippen zusammen, drückt ihr
Kreuz durch und geht.
Ich
hoffe mal, ihr habt mich bis jetzt nicht so verstanden, als wollte ich sagen:
„Uns braucht gar nichts mehr peinlich zu sein! Weg mit den Konventionen! Wir
tanzen nackt um den Altar!“ Es geht mir nicht um den Stolz an sich, sondern um
diesen armseligen Stolz, der uns vor gar nichts schützt, zu nichts verhilft. Er
bringt so gar nichts…
Wir
können durchaus auf unsere Arbeit, unsere Familie, sogar auf unser Land stolz
sein – wenn der Stolz dabei nicht zur Hauptstütze wird, an der wir Halt finden.
War
David eigentlich stolz? Und wenn ja, worauf? Vielleicht auf sich selbst,
darauf, was er erreicht hat. Aber es gab eben auch eine Menge, worauf er nicht
stolz sein konnte, und in seinen stillen Stunden war es ihm vermutlich auch
klar. David ist nicht der strahlende Held ohne Fehl und Tadel. Menschlich,
allzu menschlich, tritt er uns entgegen; keine dem Menschlichen entrückte
Majestät, kein Übermensch, sondern ein Mensch wie wir, oft ziemlich böse.
David
findet seinen größten Halt nicht in sich selbst. Was gäbe es da auch groß zu
finden? Vielmehr weiß er sich von Gott gehalten. Er weiß – oft bis zur
Überheblichkeit – dass Gott auf seiner Seite steht. Das bedeutet nicht, dass
Gott alles gut findet, was David tut. David lebt davon, dass Gott ihm immer
wieder vergibt. Darauf vertraut er. Er lässt David Mensch sein, sein
Stallgeruch bleibt ihm erhalten, und David hat in Gott den mächtigsten Halt,
der sich denken lässt.
Hier
ist die Quelle seiner Begeisterung für Gott, eine Begeisterung, die manchmal
schräge Formen annehmen kann. Doch David fragt sich nicht: „Was sollen bloß die
Leute denken?“ sondern: „Was denkt Gott von mir?“ Das ist die wirklich wichtige
und wirklich hilfreiche Frage.